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Zuggeschichten

Da sitze ich im ICE nach Würzburg und freue mich auf meine Freundin, die ich coronisch-bedingt seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen habe. DIE ZEIT schickt mir in diesem Moment einen "Gutschein für Frau IMMERVOLL" für ein Zeitungsabo der scheinbar "besten Zeitung im deutschsprachigen Raum"! Ich könnte mich ja wieder bewusst haptisch, tagespolitisch updaten, das Zeitungspapier wäre selbstverständlich vegan und aus recyceltem Klopapier, dazu stilvolle Illustrationen und perfekt recherchierter Journalismus, aber meine Aufmerksamkeit gleicht während dieser Zugfahrt, der eines Kolibris. Vielleicht ist aber die Aufmerksamkeitsspanne eines Kolibiris ausgeprägter als ich mir vorstelle? Ich weiß es leider nicht.

 

Meine müden Augen schwenken wieder zu dem süßen, kleinen Buben, der die ganze Zugfahrt über so entspannt durch den Waggon trappelt, liebevoll andere Fahrgäste neckt und ohne viel Panik seinen gesamten Trinkkakao, den er zuvor getrunken hat, über den Zugteppich "retourniert". Ich erinnere mich an Schulmilchzeiten, Bauchschmerzen und meinen Sitznachbarn aus der Volksschule, der damals seinen Trinkkakao neben mir rausgekotzt hat. Er hat sich so mit zwei "Kakaospritzern" in meinem Freunschaftsbuch verweigt! Ein Unikat! Seitdem stehe ich mit klein-abgepacktem Trinkkakao auf Kriegsfuß, außerdem glaube ich, dass jede*r irgendwan ein Schulmilchtrinkkakao-Retourerlebnis hatte, oder?

 

Die Mutter des süßen, kleinen Buben im Zug hat noch eine kleinere Tochter und einen älteren Sohn, der sich unfassbar liebevoll um seine kleine Schwester kümmert, die immer wieder versucht mein Lächeln unter der Maske zu deuten! Ich hätte ja mit drei Kindern schon 20 Mal die Nerven weggeworfen, aber es werden geduldig Snacks verteilt, Matchboxautos gerollt und Tränen getrocknet.

 

Die deutsche Grenzpolizei erweist sich als netter als gedacht! Der leicht präpotente Businessheini hinter mir war dennoch sehr darüber verwundert, dass sogar ER, der so EINDEUTIG  "dienstlich" unterwegs ist, seinen Pass herzeigen muss! Ja willkommen in der Realität! Man sieht dir deinen SUV nicht an, auch das Ipad, dass du im Hotel vergessen hast - wie wir alle lautstark bei einem Telefonat erfahren haben - sagt dem Grenzschutzbeamten nicht, dass du unkontrolliert über die Landesgrenze darfst! 

 

Mittlerweile ist der kleine Held eingeschlafen und sein Schwesterchen schnarcht sehr süß und entspannt vor sich hin! Fünf Stunden Fahrt und die junge Frau neben mir hat keinen Schluck Wasser getrunken! Nichts! Ich wollte ihr gerne eines aus dem Speisewagen mitbringen - die wahnsinnig charismatische Dame vor mir, hat das auch den fremden Sitznachbarinnen angeboten, also warum nicht? Sie will keines. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt auch schon, dass sie eigentlich keinen Zucker ist und wir vermutlich beide unseren Anschlusszug verpassen werden. 

 

In der Gepäckablage schläft angeblich eine Katze im Korb, die andere Katze ist gerade mit der absolut charismatischen Dame vor mir in Nürnberg ausgestiegen! Die ältere Dame neben mir hat ihre Familie im anderen Waggon, die sich stündlich nach ihrem Wohlergehen erkundigt.

 

Ich wollte gerne in meinem feministischen Buch weiterlesen und keine Zeile dringt wirklich in mein Hirn vor! Ist es doch ein hirnloser, nein, geisteskranker, machtgeiler Narzisst, der diese Menschen in die Flucht treibt und ihr Land dem Erdboden gleich macht! Haben sie alle ein Ziel? Ich habe das Gefühl in diesem Zugwaggon sind lauter Ukrainer*innen, die ein genaues Ziel haben! Ich hoffe es so sehr für sie und wünschte ihre Männer, Brüder, Söhne, Schwager und Stiefsöhne würden mit dem nächsten Zug nachreisen, eine kleine Auszeit nehmen und in eine unversehrte Ukraine zurückreisen, aber das bleibt wohl eine Wunschvorstellung! Es bleibt auch eine Wunschvorstellung, dass dieser Krieg schnell vorbei ist, dass diese Menschen die einzigen sind, die ins Ungewisse reisen,  dass Flüchtlingslager nur kurzzeitige Auffanglager sind, dass Kriege die mehr als 400 km enffernt sind, genauso ernst genommen werden wie dieser, dass Schwarze Flüchtlinge gleich viel Unterstützung wie weiße erhalten, ... die Liste ist lang! Diese Flüchtlingswelle ist bereits größer als 2015 und der Platz scheint da zu sein. Also? ...

 

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